Digitalisierung – Automatisierung – Kundenorientierung. Strategische Optionen für Krankenkassen
„Digitalisierung wird den Wettbewerb in der GKV verschärfen und die Konsolidierung befördern.“ Mit dieser starken These machte Christian Fink, Geschäftsführer von _fbeta, den Aufschlag für einen Austausch über mögliche Marktentwicklungen in der GKV und die strategischen Optionen von Krankenkassen in der Digitalisierung. Führt die Digitalisierung zu einer Konsolidierung und letztlich zu einer Einheitskasse oder belebt sie den Wettbewerb und damit Kundenorientierung und Innovationen in der Versorgung und Verwaltung?
Welches Szenario wahrscheinlicher ist und welche Implikationen sich für Krankenkassen daraus ergeben, das war Gegenstand der virtuellen beta_meet-Veranstaltung am Dienstag, 09. Juni 2020, an der über 100 Gäste teilnahmen. Vertreter von Krankenkassen, Politik und Wissenschaft, Start-ups sowie von IT-Unternehmen verfolgten Impulsvortrag, Case Study, Podiumsdiskussion und Show Case. Die Agenda folgte dabei den in dem einführenden Impulsvortrag „Die vollautomatisierte GKV“ skizzierten Wettbewerbsfeldern für die (digitalisierte) GKV. Während das Wettbewerbsfeld „Leistung und Versorgung“ bereits Thema zurückliegender Veranstaltungen war, fokussierte dieses beta_meet auf die Wettbewerbsfelder „Kundenservice“ mit einer Case Study (ottonova) und „Prozesse“ mit einem Show Case (data experts).
GKV ist im Kern Sachbearbeitung – und die ist automatisierbar und skalierbar
Die von Christian Fink eingangs formulierte These zur Konsolidierung der GKV durch Digitalisierung stützt sich auf die grundsätzliche Automatisierbarkeit der GKV: „Die GKV macht im Kern Sachbearbeitung, d. h., sie trifft regelgebundene Entscheidungen, was im Prinzip völlig automatisierbar und auch skalierbar ist“, so Christian Fink in seinem Impulsvortrag. „Im Grunde lässt sich dieses auf alle Versicherten der GKV ausweiten, sodass es nur noch eine Kasse bräuchte statt 105. Dies wäre zudem wahrscheinlich deutlich wirtschaftlicher, als die Software mehrfach zu implementieren und zu betreiben, Stichwort „economies of scale“, zumal auf Cloud-Infrastruktur.“
Warum ist es aber bisher nicht dazu gekommen?
Hürden für die Automatisierung fallen: Einheitskasse – ein denkbares Szenario
Trotz diverser Fusionswellen und obwohl es nur wenige große Softwarelösungen in der GKV gibt, gab es bisher einige Hürden, die die vollautomatisierte Einheitskasse verhindert haben. Durch Technologie und Gesetzgebung scheinen diese jetzt wegzufallen; zudem seien Versicherte zunehmend daran gewöhnt, mit Versicherungen wie auch mit Banken primär digital zu interagieren. Damit werde auch dieser Kanal zunehmend strukturiert erfassbar und automatisiert verarbeitbar. Da aber die Kompetenzen und Ressourcen für eine erfolgreiche Digitalisierung zwischen den Kassen unterschiedlich verteilt sind, verschärft die Digitalisierung wieder den Wettbewerb und Konsolidierungsdruck, so Fink. Die volkswirtschaftlich rein unter dem Effizienz-Blickwinkel sinnvolle Einheitskasse erscheint daher jetzt ein realistisches Szenario zu sein.
Die sich daraus ergebenden wichtigsten Implikationen für Kassen fasste Christian Fink zusammen: Kassen müssen gezielt automatisieren, um Personal zu entlasten, Kundenerwartungen zu erfüllen und Geld zu sparen; sie müssen alle technischen Möglichkeiten nutzen, um Engpässe wie fehlende Schnittstellen aufzulösen und die organisatorischen Fähigkeiten aufbauen, um dabei besser zu sein als die Konkurrenz.
Darüber hinaus bedeute erfolgreiche Digitalisierung, die digitale Kundenschnittstelle besser zu beherrschen, eine bessere Kundenerfahrung zu schaffen und einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz zu gewinnen. Kundenservice sei eine der wenigen Möglichkeiten für Kassen, gegenüber der Konkurrenz Wettbewerbsvorteile zu erringen.[1] „Das machen erfolgreiche Unternehmen in anderen Branchen vor, z. B. rein digitale Banken wie N26 oder die private Krankenversicherung ottonova“, so Fink.
Erfolgsfaktoren für Differenzierung durch Digitalisierung und Kundenorientierung
Spannend daher die Einblicke, die die Case Study von Dr. Roman Rittweger, CEO und Co-Founder der ottonova – Deutschlands erster digitaler/Online-Krankenversicherung – bot. Er bestätigte zunächst die Beobachtung von Christian Fink, die dieser für die GKV formuliert hatte, dass es für den Kunden bzw. Versicherten nur wenige Berührungspunkte mit seiner Krankenversicherung gäbe – im Gegensatz zu der Erfahrung, die er in anderen Branchen mache. Bei den Krankenversicherungen fehle vor allem der proaktive (digitale) Support, so Dr. Roman Rittweger.
Er machte drei zentrale Erfolgsfaktoren für Differenzierung durch Digitalisierung aus: Zunächst müsse der Kommunikationskanal zum Kunden passen – dass alle Prozesse online und mobil laufen, fordere die junge Zielgruppe. Zudem sei es wichtig, schnell auf Anfragen zu reagieren, und nicht per E-Mail oder Brief zu bearbeiten – dieses entspreche der Kundenerwartung. Der Ansatz von ottonova sei es daher auch, ein ständiger Begleiter des Versicherten zu sein und z. B. schnell Zugang zu Ärzten und Spezialisten zu bieten. Entscheidend aber sei, dass die Technologie immer auch eine persönliche Dimension habe, digital schließe ja nicht aus, dass echte Menschen als Ansprechpartner hinter den Prozessen stünden. Die kontinuierliche persönliche Betreuung sei auch der Kern des Angebotes von ottonova und Hauptgründungsmotiv.
Was müssen Kassen tun, um zu den Gewinnern zu gehören?
Vor dem Hintergrund des eingangs skizzierten ökonomischen Szenarios einer denkbaren Einheitskasse und einer Konsolidierung in der GKV stellen sich für Kassen die Fragen: „Welche Erfolgselemente sind – trotz aller Unterschiede – auf die GKV übertragbar?“ und „Wie stellen Kassen sich auf, um zu den Gewinnern zu gehören?“
Dies diskutierten Ralf Degner, TK (Leiter Digital Office), Christian Rebernik, ehem. Vivy und N26, James Löll, data experts (Leiter Gesundheitswesen & GKV), gemeinsam mit Dr. Roman Rittweger ottonova (CEO) und Christian Fink unter Leitung von Bernhard Kniepkamp, _fbeta.
Die von Christian Fink in seinem Impulsvortrag skizzierte Empfehlung an die Kassen, mit einer sogenannten Minimal Viable Organization zu starten, also einer auf die Kernaspekte reduzierten und fokussierten Organisation, und leichtgewichtig loslegen, wurde im Rahmen der Podiumsdiskussion als richtiger Ansatz bestätigt. Für dieses Vorgehen plädierte auch James Löll: „Lernkurve starten, mit den Herausforderungen wachsen und auch mal gegen die Wand laufen.“ Und Dr. Roman Rittweger wies darauf hin, dass es auch in der GKV möglich und notwendig sei, auf der „grünen Wiese“ Geschäftsmodelle zu entwickeln und diese zügig und mutig umzusetzen.
Christian Rebernik, der Vivy und N26 gegründet hat, zeichnete das Bild von der Krankenkasse, wie sie in 10 Jahren aussehen könnte: Auf jeden Fall papierlos und klar positioniert mit verstärkt auch proaktiven Angeboten in der Prävention und nicht nur punktueller Gesundheitsversorgung. So verstehe er die Stoßrichtung des BMG mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz.
In diesem Zusammenhang sei es vonseiten des Gesetzgebers notwendig, zu justieren und klar zu machen, wo und zu welchem Zweck Wettbewerb herrschen soll – etwa um die Qualität der Versorgung oder um den besten Kundenservice – und wo gemeinsam und einheitlich Skalenvorteile realisiert werden sollen, erläuterte Christian Fink. Und Ralf Degner ergänzte: Wenn es die vom Gesetzgeber gewünschte Aufgabe der GKV sei, Mehrwerte für den Kunden zu schaffen, die über klassische Abwicklungsprozesse hinausgingen, dann sei es auch erforderlich, dieses entsprechend in der Gesetzgebung abzubilden und Freiräume dafür zu schaffen.
Welche Potenziale und Vorteile die Automatisierung bietet, dem wachsenden Effizienzdruck und sich verändernden Anforderungen im strategischen Zusammenspiel von Prozessoptimierung und Kundenorientierung zu begegnen, zeigte der abschließende Show Case.
Automatisierung: ein Instrument zur strategischen Umsetzung von Digitalisierung
Der von Frank Körner, data experts, präsentierte Show Case ließ die Gäste der Veranstaltung nachvollziehen, wie effizient der Einsatz von Automatisierung bei Routineaufgaben sein kann.
Manuelle Dateneingabe und einfache Sachbearbeitungstätigkeiten können durch RPA oder andere Skripte übernommen werden. Eine flexible Automatisierung von Prozessen sei möglich, ohne dass dafür ein aufwendiges und teures IT-Projekt aufgesetzt werden müsste, so Frank Körner. Wichtige Vorteile seien die problemlose Integration von Software-Robotern in die bestehende IT-Landschaft sowie ihre Skalierbarkeit. Im Vergleich zur manuellen Eingabe durch Mitarbeiter ist eine Zeitersparnis von 70 Prozent realisierbar und nach einmaliger Erstellung eines solchen Skriptes (im Beispiel nur 2 h Aufwand) sind beliebige Daten-Mengen automatisiert verarbeitbar. Die flexible Automatisierung von Prozessen erlaube es, auch bei sich durch die Digitalisierung verändernden Anforderungen stets handlungsfähig zu sein. – Wichtig, um im Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben und sich Gestaltungsmöglichkeiten offen zu lassen!
Ausblick: beta_work
Im Rahmen des beta_meet konnten die Speaker und Teilnehmer der Podiumsdiskussion wichtige Impulse und Einblicke geben, aber auch noch offene Punkte und zukünftige Aufgabenfelder aufzeigen. In nachfolgenden beta_works möchten wir in Kooperation mit data experts einzelne Aspekte weiter vertiefen, exemplarisch mit interessierten Workshopteilnehmern durchdenken und Impulse für eine konkrete Umsetzung geben.
Wir wenden uns mit den beta_works an Entscheidungsträger und operativ Verantwortliche in Krankenkassen. Auf der Basis der Befragungsergebnisse aus dem beta_meet bieten wir – voraussichtlich Ende August / Anfang September – zwei Workshops an. Themen werden sein: „Kunden begeistern mit digitalem Service“ sowie „Technologie zur Prozessautomatisierung“.
Senden Sie uns gerne weitere Themenvorschläge an E-Mail: info@fbeta.de
Über die genauen Termine informieren wir Sie in unserem Magazin, LinkedIn und eventbrite.
……………..
Foto: canva
[1] Siehe auch den Magazinbeitrag von Christian Fink und Sebastian Schulz: „Mehr Kontakt wagen.“