
Ein Widerspruch mit echten Konsequenzen für Patient:innen, Ärzt:innen – und die Versorgung insgesamt. Denn:
Wenn Arzneimittel trotz klinischer Relevanz keinen Zusatznutzen zuerkannt bekommen, hat das Konsequenzen:
- Der Erstattungsbetrag muss teils unterhalb der Vergleichstherapie verhandelt werden,
- Der Marktzugang kann wirtschaftlich unattraktiv werden – bis hin zur Marktrücknahme,
- Und medizinisch sinnvolle Therapien erreichen die Patient:innen nicht.
Gerade in Situationen mit hohem medizinischen Bedarf (z. B. seltene Erkrankungen, therapieresistente Verläufe oder Versorgungsengpässe) greift das aktuelle System zu kurz: Es ignoriert Versorgungslösungen, die methodisch nicht in die enge Systematik des Zusatznutzens passen – obwohl sie klinisch wichtig wären.
Deshalb haben wir gemeinsam mit Janssen Cilag GmbH systematisch untersucht, welche Rolle die Einordnung als „relevante Therapieoption“ tatsächlich spielt – methodisch mit einem strukturierten Literaturreview, einer Preisanalyse sowie einer Auswertung der Schiedssprüche.
Die Ergebnisse der Studie sind ernüchternd
- Die Einordnung als „relevante Therapieoption“ bleibt ohne klare Konsequenzen für Preisverhandlungen – und damit auch ohne Wirkung auf den tatsächlichen Zugang zu Therapien.
- Besonders häufig wird kein Zusatznutzen anerkannt, obwohl gute Evidenz vorliegt – nur eben nicht im engen Raster der deutschen Bewertungssystematik.
Was dem AMNOG aktuell fehlt: Es gibt Therapiesituationen – z. B. bei seltenen Erkrankungen, schweren Verläufen oder fehlenden Alternativen – in denen das aktuelle AMNOG-System zu kurz greift. Es fehlt das methodische Instrumentarium, um klinisch sinnvolle und benötigte Therapien adäquat zu würdigen, wenn die vorhandene Evidenz nicht zur Fragestellung des G-BA passt.
1. Mangelnde methodische Systematik der Einordnung als „Relevante Therapieoption“
Der G-BA hat keine formalen Kriterien zur Einordnung als „relevante Therapieoption“ definiert.
Konsequenz: Die Einordnung erfolgt fallweise und bleibt nicht reproduzierbar oder überprüfbar.
Handlungsbedarf: Entwicklung einer transparenten, methodisch belastbaren Systematik für die Einordnung – vergleichbar zur Definition der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder zu Bewertungskategorien des Zusatznutzens.
2. Fehlende Verbindlichkeit der „Relevanz“ für die Preisverhandlung
Die Formulierung „relevante Therapieoption“ wirkt nicht preisgestaltend – sie entfaltet keine systematische Wirkung in den Verhandlungen.
Konsequenz: Auch bei positiver Versorgungseinschätzung kann ein Arzneimittel unter das Preisniveau der ZVT gedrückt werden, z. B. durch das 10%-Abschlagsgebot bei nicht belegtem Zusatznutzen und patentgeschützter ZVT (GKVFinStG, 2022).
Handlungsbedarf: Die Einordnung als relevant muss verpflichtend in die Preisbildung einfließen – etwa als „preisstützender Faktor“, analog zur Rolle klinisch belegter Vorteile.
3. Fehlende systematische Berücksichtigung der Versorgungslage
Stellungnahmen von Fachgesellschaften zur Versorgungslücken werden vom G-BA in Einzelfällen berücksichtigt, aber nicht konsistent operationalisiert (vgl. Beispiele aus der Studie sowie G-BA-Bewertungen).
Konsequenz: Therapieoptionen mit hoher praktischer Relevanz (z. B. bei seltenen Erkrankungen, fehlenden Alternativen) erhalten keinen strukturellen Bewertungsbonus.
Handlungsbedarf: Die Versorgungslage muss als eigene Bewertungskategorie etabliert werden – ähnlich zur Bewertung bei „Orphan Drugs“ oder Therapien in Mangelsituationen.
4. Evidenzbasierung muss kontextsensitiver sein
Gute Evidenz wird häufig nicht anerkannt, weil sie nicht dem methodischen Raster der deutschen Bewertungssystematik entspricht (z. B. retrospektive Real-World-Daten, Subgruppenanalysen). Konsequenz: Innovationen mit hoher klinischer Plausibilität, aber geringer Datenkonformität fallen systematisch durchs Raster.
Handlungsbedarf: Die Bewertungsmethodik muss Raum geben für kontextsensitiv anerkannte Evidenzformen, vor allem bei hoher Morbidität, dringlichem Bedarf oder fehlender ZVT.
Fazit:
Die „relevante Therapieoption“ bleibt bislang eine gut gemeinte, aber folgenlose Einstufung – mit realen Nachteilen für Patient:innen, wenn Therapien trotz klinischer Bedeutung wirtschaftlich unattraktiv werden.
Damit Innovationen auch dort ankommen, wo sie dringend gebraucht werden, muss die Weiterentwicklung des AMNOG in mehr methodischer Flexibilität, klaren Bewertungskriterien und einer verbindlichen Einbindung in die Preisverhandlungen münden.
Die Studie [hier zu lesen] liefert dafür fundierte Impulse – jetzt braucht es den politischen Gestaltungswillen, daraus konkrete Regeln zu machen.
📩 Kontakt: Hans-Holger Bleß