Integrierte Versorgung 4.0 – Die neue Wettbewerbsordnung ist Koopetition!

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Die derzeitige Marktentwicklungen und Gesetzgebung im Kontext digitaler Gesundheitsanwendungen und digitaler Vernetzung im Gesundheitswesen bietet das Potenzial, auf eine neue Art und Weise nicht nur Versorgungs- und Verwaltungsprozesse von Leistungserbringern und Krankenkassen, sondern ebenfalls des Gesundheitshandeln der Versicherten und digitale Leistungen zu integrieren.

Die hierbei entstehenden verlängerten intra- und intersektoralen Wertschöpfungsketten zwingen Leistungserbringer zunehmend zu einer stärkeren Zusammenarbeit bei der Versorgung von Patienten, wodurch sich die bestehende Wettbewerbsordnung zunehmen verlagert.

Gleichzeitig erfordert auch die als Grundlage eines erfolgreichen Versorgungsmanagement erforderliche Vernetzung und Plattformbildung aufgrund ihrer hohen Anfangsinvestitionen Kooperationen zwischen Leistungserbringern, Leistungserbringern-Verbünden sowie Krankenkassen. Trotz der Notwendigkeit zunehmender Kooperationen, stehen die verschiedenen Leistungserbringer und Krankenkassen gleichzeitig weiterhin im Wettbewerb miteinander um Versicherte und Patienten, weshalb sich der derzeitige Wettbewerb hin zu einer neuen Wettbewerbsordnung verschiebt: Der Koopetition.

Die Sektoralisierung im Gesundheitswesen

Das Gesundheitswesen ist seit Jahrzehnten durch eine sektorale Trennung geprägt. Dies betrifft nicht nur die verschiedenen Leistungserbringer der unmittelbaren Gesundheitsversorgung selbst, sondern auch die beiden anderen Akteure der Dreieckbeziehung im Gesundheitswesen: Die Krankenkassen als Kostenträger und die Versicherte/Bürger als Endkunden, sowie daran angrenzend die Arbeitgeber.

Dementsprechend können auch die einzelnen Leistungen und Services sektoral als Einzelpunkte gesehen werden, wodurch auch die zugrundeliegende Systemarchitektur eine sektorale Aufgliederung aufweist. Dies betrifft beispielsweise die ca.  160 Arztinformationssysteme (AIS) und die ca. 10 Krankenhausinformationssysteme (KIS) auf Leistungserbringerseite sowie die Informationssysteme der Krankenkassen. Entsprechend ihrer sektoralen Ausrichtung sind diese bisher im Wesentlichen in sich geschlossen und für sich gedacht und werden weniger als Vernetzungsprodukte gesehen, die sich mit Systemarchitekturen anderer Sektoren vernetzen können. Zugleich besitzen die Versicherten kein Primärsystem im eigentlichen Sinne – sie können ihre Gesundheit über einzelne digitale Gesundheitsanwendungen und die Online-Geschäftsstelle der Krankenkassen digital abbilden.

Vernetzungsinfrastrukturen im Gesundheitswesen

Zusätzlich zu den Primärsystemen der einzelnen Stakeholder gibt in den letzten Jahren vermehrt dezentrale und zentrale Systeme zur Vernetzung.

Bei ersteren handelt es sich um standortübergreifende Systeme, z. B. auf Ebene der KVen, Ärztenetze und Klinikketten, die auf den Primärsystemen aufsetzen und Daten verschiedener Standorte bündeln, weiterverarbeiten und für den Datenaustausch vorbereiten.

Letztere hingegen ermöglichen eine zentrale Datenablage und -transaktion über die Primärsysteme und die dezentralen Systeme hinweg. Hierbei handelt es sich beispielsweise um das Sichere Netz der KVen (SNK) sowie um größere Vernetzungen von Klinikketten und/oder Ärztenetzwerken, deren Systeme zusätzlich zum eigenen Sektor, auch ein Stück weit in angrenzende Sektoren reicht. Aber auch Krankenkassen sowie IT-Hersteller bauen zunehmend Vernetzungsinfrastrukturen auf, die auf den Primärsystemen aufsetzen. Zusätzlich zu diesen einzelnen, oft auch regionalen Vernetzungen ist auch die gematik seit langem beauftragt eine umfassende Vernetzungsinfrastruktur, die Telematikinfrastruktur (TI), welche alle Leistungserbringer sowie die Krankenkassen miteinander vernetzen soll, aufzusetzen.

Darüber hinaus gibt es aus den branchenübergreifenden und Konsumenten-Bereichen Unternehmen wie Apple, Google und Microsoft, deren Fokus nicht auf dem Gesundheitswesen liegt, sondern auf einer marktübergreifenden Vernetzung und Plattformbildung.

Anwendungen der Telematikinfrastruktur

Insbesondere im Bereich der TI gab es in den letzten Jahren auch auf gesetzgeberischer Seite verstärkte Bestrebungen, die TI mit verschiedenen Funktionen und Anwendungen auszubauen. Hierzu zählen verschiedene Funktionen, welche die Zugangsinfrastruktur betreffen, wie beispielsweise die Qualifizierte Arzt-Signatur (QES) oder das Versichertenstammdatenmanagement (VSDM), aber auch Anwendungen, die bestimmte Basisprozesse abbilden wie z. B. das eRezept, der eMedikationsplan, die ePA oder KIM (Kommunikation im Medizinwesen) als Kommunikationsstandard.

Diese bilden im Wesentlichen Basisprozesse ab, welche vorwiegend der Kommunikation und Dokumentation dienen. Diese sind als Grundlage auch ein wichtiger erster Schritt hin zu einem vernetzen Gesundheitswesen – sie sind jedoch noch nicht geeignet, um ein Versorgungsmanagement zu fördern. Grund hierfür ist, dass die Prozessinnovationen und -integration in der Versorgung für ein Versorgungsmanagement im beschriebenen gesetzlichen Teil noch nicht enthalten ist. Gleichzeitig besteht gerade in diesem Bereich das höchste Nutzenpotenzial für die einzelnen Akteure und die sich potenziell ergebenden neuen Geschäftsmodelle.

Digital Health als Game Changer?

Auch der Bereich Digital Health, der weit mehr umfasst als die derzeit im Fokus stehenden DiGAs, bildet im Wesentlichen Prozesse ab. Dies betrifft jedoch nicht mehr die Prozesse der Leistungserbringer, sondern den Prozess der Versicherten (Gesunde, ggf. mit Risikofaktoren) und Patienten (Kranke): Das Gesundheitshandeln. Dieses war im Gesundheitswesen bisher kaum adressiert und stellt damit allein deshalb gewissermaßen eine Innovation dar, auf die sich das Gesundheitswesen ausweitet. Folglich weisen Digital-Health-Anwendungen in der Regel eine starke Nutzerzentrierung auf und sind gleichzeitig nicht sektorenzentriert, sondern fokussieren sich auf bestimmte Themen (z. B. Krankheitsbilder wie Diabetes Mellitus, Depressionen, KHK) unabhängig davon, von welchem Leistungserbringer sie in welchem Sektor erbracht werden. Erst mit Digital Health kommen die Versorgungsinhalte ins Spiel.

Bei Digital-Health-Anwendungen unterscheidet man insgesamt zwischen sieben Anwendungstypen. Vier davon haben einen versorgungsinhaltlichen Schwerpunkt, wohingegen es sich bei den anderen drei um ergänzende Typen handelt. Die Details zu den einzelnen Anwendungstypen sind Abbildung 1[i] zu entnehmen.

Die 7 Funktionstypen

Ein wesentlicher Aspekt der Digital-Health-Anwendungen von Vernetzung unterscheidet, ist das Ausmaß, in dem diese disruptiv sind. Vernetzungsinfrastruktur ist per se nicht disruptiv –sie unterstützt – hat aber keinen eigenen (medizinischen) Kernnutzen an sich. Der hierzu erforderliche versorgungsinhaltliche Aspekt kommt erst durch Digital Health hinzu. Damit stellt Digital Health das Gesundheitswesen in seiner bisherigen Form infrage. Diese Disruption spiegelt sich in verschiedenen Formen wider:

  • Die voranschreitende Digitalisierung wird weitere neue Möglichkeiten und Funktionen hervorbringen, die bisher nicht möglich waren, beispielsweise im Bereich künstliche Intelligenz (KI).
  • Bisher analog erbrachte Leistungen werden durch Digital-Health-Anwendungen digital erbracht und damit ersetzt werden – in gewissem Maße auch ärztliche und therapeutische Leistungen –, sodass man von der Entstehung von neuen digitalen Darreichungsformen traditioneller Versorgungsmodelle und Methoden sprechen kann.
  • Hierdurch wird die Frage aufgeworfen, ob die Hersteller bzw. ihre digitalen Anwendungen durch ihre ersetzende Funktion als neue zusätzliche Leistungserbringer gesehen werden können.
  • Gleichzeitig stellt Digital Health die bisherigen Grenzen des Systems infrage und integrierte nicht nur die Leistungs- und Versicherungssektoren, sondern darüber hinaus das Gesundheitshandeln, sodass übergreifende Wertschöpfungsketten entstehen, die insgesamt das Potenzial eines höheren Gesamtnutzens aufweisen.
  • Die Zulassung von digitalen Gesundheitsanwendungen in das Kollektivsystem der GKV führt zu einer Erweiterung des Leistungsumfangs bzw. zu einer Leistungsausweitung der GKV (u. a. im Bereich Prävention und neuer Leistungen), da hierdurch Leistungen, wie z. B. die Betreuung von chronischen Patienten zwischen den Arztbesuchen, die bisher nicht oder nur in sehr begrenzten Umfang stattgefunden haben, damit zum Regelfall werden.
  • Dies bringt als Chance die Aktivierung des Patienten als bisher größte ungenutzte Ressource im Gesundheitswesen mit sich.
  • Durch die verlängerten Leistungsketten entstehen neue Geschäftsmodelle, die alternative und übergreifende Vergütungsformen erfordern, wie z. B. Komplexpauschalen oder erfolgsabhängige Vergütungsbestandteile wie z.B. „Pay-for-Performance“.

Als Folge der sich schrittweise ergebenden übergreifenden Wertschöpfungsketten und der hierdurch entstehenden neuen Geschäftsmodelle, entsteht auch ein neuer Wettbewerb um diese verlängerten Wertschöpfungsketten in Versorgung, Verwaltung und Service, d. h., es werden verschiedenste Bereiche miteinander kombiniert – und zwar themenfokussiert.

Integrierte Versorgung 4.0

Betrachtet man die vorgenannten Aspekte in der Summe, so ergibt sich hieraus eine neuartige Integration von Versorgung. Im Gegensatz zur bisherigen integrierten Versorgung, ist die durch Digital Health ermöglichte neue Art der Integrierten Versorgung wesentlich weitreichender und enthält neues Potenzial, die bisherigen Hürden zu beseitigen. Diese neue Form der Integrierten Versorgung umfasst nicht nur die Integration von Versorgungsleistungen und ganzen Leistungsketten innerhalb eines Sektors oder zwischen Sektoren, sondern integriert zusätzlich dazu das Gesundheitshandeln der Versicherten/Patienten sowie darüber hinaus digitale Leistungsbestandteile und die sich damit ergebenden Möglichkeiten einer zeit- und ortsunabhängigen Versorgung. Damit kann sie als Integrierte Versorgung 4.0 bezeichnet werden.

Folglich weist die Integrierte Versorgung 4.0 ein hohes Maß an Patientenzentrierung sowie eine wettbewerbliche und digitale Umsetzung auf. Zugleich erfolgt der hierdurch verstärkte Versorgungswettbewerb über Versorgungsportfolios, bestehend aus Gesundheits-, Versorgungs- und Serviceleistungen. Zudem ist die Lotsenfunktion für die Gesundheitsversorgung zunehmend technikunterstützt und somit digital und datenbankbasiert (KI) und kann dadurch weniger standardisiert und stärker personalisiert erfolgen. Als Konsequenz hieraus werden nicht nur Potenziale für eine erhöhte Produktivität im Versorgungssystem freigesetzt, sondern es wird darüber hinaus ein stärkerer Fokus auf die Ergebnisqualität sowie die Einbindung erfolgsabhängiger Vergütungsbestandteile ermöglicht.

Diese Überlegungen waren in einer ähnlichen Form bisher lediglich in den Selektivverträgen vorzufinden. Durch die Einführung der DiGAs wird Digital Health jedoch auch Teil der Regelversorgung und des Kollektivvertrages und führt hier ebenfalls eine Fokussierung der Ergebnisqualität über erfolgsabhängige Vergütungsformen ein.

Die neue Wettbewerbsordnung heißt Koopetition

Die zuvor gemachten Überlegungen werfen schlussendlich die Frage auf, welche Konsequenzen dies für die Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen hat.

Bisher ist diese Wettbewerbsordnung ebenfalls sektoral aufgeteilt, sodass die Leistungserbringer nicht nur innerhalb eines Sektors, sondern auch zwischen den Sektoren miteinander im Wettbewerb stehen. Die durch Digital Health entstehenden verlängerten intra- und intersektoralen Wertschöpfungsketten zwingen Leistungserbringer jedoch zunehmend zu einer stärkeren Zusammenarbeit bei der Versorgung von Patienten, sodass sich die Wettbewerbsordnung zunehmend verändert. Gleichzeitig werden Vernetzungsinfrastrukturen und Plattformen benötigt, damit Digital Health das volle Potenzial entfalten kann.

Dementsprechend gibt es für die neue Wettbewerbsordnung zwei zentrale Ebenen zur berücksichtigen: Die Veränderung auf Ebene der Versorgung der Versicherten und Patienten durch verlängerte Wertschöpfungsketten sowie die damit verbundene zunehmende Vernetzung aller Akteure im System. Auf beiden Ebenen braucht es mehr Kooperation zwischen Akteuren, die bislang eher im Wettbewerb zueinander standen.

Die beim Thema Vernetzung angestrebten Vernetzungsinfrastrukturen und Plattformen bringen jedoch die Herausforderungen mit sich, dass sie allein nicht nur keinen „Meaningful Use“ bieten, sondern gleichzeitig sehr hohe Anfangsinvestitionen erfordern. Unabhängig von den rein finanziellen Hürden sind Plattformen einzelner Anbieter jedoch auch aus operativer Sicht nur wenig sinnvoll, da gemäß der Plattformökonomie Plattformen ihren vollständigen Wert erst entfalten, wenn eine Vielzahl an Nutzern auf dieser Plattform existiert und diese auch regelmäßig nutzt. Folglich sind Kooperationen, beispielsweise zwischen Leistungserbringern, Leistungserbringer-Verbünden und Krankenkassen, zwingend erforderlich, um solche Plattformen mit gemeinsamen Standards zu etablieren, anzuschieben und zu finanzieren, um deren Potenziale vollständige freizusetzen.

Auf Grundlage dieser Plattformen kann dann die zukünftige Versorgung, beispielsweise über das Angebote digitaler oder hybrider Versorgungangebote, gestaltet werden. Hierbei kommt es zu einer zunehmenden Verzahnung von digitalen und analogen Leistungen und der zuvor beschriebenen Bildung sekorenübergreifender Wertschöpfungsketten. Gleichzeitig können Angebote in einer modularen und damit individuell anpassbaren Form integriert und angeboten werden, was eine erhöhte Personalisierung der Versorgung ermöglicht. Einen wesentlichen Beitrag für die Personalisierung und Effizienzsteigerungen liefert dabei auch der vermehrte Einsatz von Technologien, wie z. B. KI, bei der Steuerung, Kontrolle und Justierung der Versorgung des Einzelnen. Die damit einhergehenden patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen, im Sinne einer Steigerung der Prozessqualität, wirken sich wiederum positiv auf die Ergebnisqualität der Gesundheitsversorgung jedes Einzelnen aus.

Damit diese Potenziale auch tatsächlich realisiert werden können, bedarf es rahmengebender Verträge um die Plattformen und Versorgungsketten, die nicht nur die Struktur der Versorgung, sondern ebenfalls die Rollen der einzelnen Akteure bei der Versorgung spezifischer Patientengruppen und Krankheitsbilder definieren. Es bedarf auch der gemeinsam organisierten technischen Plattformen zur Vernetzung.

In der Summe führt eine Realisierung der oben genannten Punkte zu einer neuen Wettbewerbsstruktur, einem Wettbewerb um Leistungsintegration, und zu einer Bindung von „Exzellenz“ in Versorgung, Verwaltung und Service. Nachdem in den letzten 10 Jahren der Eindruck entstehend konnte, dass der Gesetzgeber dem Markt in der Regulierung hinterherläuft, gibt er aktuell so viele Impulse und Möglichkeiten, dass die Leistungserbringer und Krankenkassen mit der Wahrnehmung, geschweige denn Nutzung, der Gestaltungsräume eher dem Gesetzgeber hinterherlaufen. Wir können gespannt sein, wer die Innovationsfelder für seine Positionierung am besten nutzt. Auf jeden Fall ist eine deutlich aktivere Rolle aller Beteiligten erforderlich, als es in der Vergangenheit der Fall war. Packen wir es an – auf Beschwerden über schlechte Rahmenbedingungen kann man sich nun nicht mehr zurückziehen.

Weiterführende Informationen

Auf der rein digitalen DMEA Sparks 2020 On Demand (16.–18. Juni) ist der Vortrag von Karsten Knöppler, _fbeta: „Vernetzungsinfrastruktur + Integrierte Versorgung 4.0: Wege zu einer neuen Wettbewerbsordnung?“ online verfügbar.
Kostenfreien Anmeldung für den Zugriff auf dieses Video und andere Inhalte der DMEA sparks hier: https://lnkd.in/e6cKrfj

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Foto: Joerg Frank

[i] Quelle: Bertelsmann Stiftung 2016: Gesundheits-Apps. Bedeutender Hebel für Patienten Empowerment – Potenziale bislang kaum genutzt, S. 4. Online unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/SpotGes_Gesundheits-Apps_dt_final_web.pdf

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