Distributed Work in Zeiten der Pandemie – und danach?

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Neben dem bargeldlosen Bezahlen, erlebt das Homeoffice durch die Corona-Pandemie einen in Deutschland nicht für möglich gehaltenen Boom. Unerwartet reibungslos und effektiv etabliert sich gerade die virtuelle (Zusammen-)arbeit in vielen Branchen. Dieses Momentum gilt es zu nutzen. Was können Verwaltungen wie Krankenkassen von anderen Organisationen lernen, die im Hinblick auf Distributed Work schon viel weiter sind?

Homeoffice ist nicht in allen Branchen und in allen Bereichen umsetzbar, aber überall da, wo die Zusammenführung und Verarbeitung von Daten den Kern der Arbeit bildet, Informationsgenerierung und -verteilung sowie Kommunikation die zentralen Arbeitsprozesse sind, sind diese grundsätzlich virtuell durchführbar. Die Grenze liegt dort, wo die Arbeit physisch erbracht und somit physische Präsenz erforderlich ist: im Handwerk, in Pflege und Betreuung, Krankenversorgung, bei Lieferdiensten etc.

Bisher galt auch in der Beratungsbranche die Annahme, dass eine Virtualisierung nur eingeschränkt umsetzbar ist, u. a. weil man davon ausging, dass die persönliche Präsenz z. B. für Workshops unabdingbar ist. Angesichts der Erfahrungen in den letzten Wochen scheint diese These nicht haltbar zu sein.

… und dann kam Corona

Im März wurden wir Zeugen, wie ein wichtiges IT-Vernetzungsprojekt mit einem halben Dutzend großer und kleiner Partner mit weit über 50 wöchentlich anreisenden Kundenmitarbeitern, Beratern, Software-Entwicklern, Business-Analysten, Controllern, IT-Architekten, UX-Designern, Service-Providern, Projektmanagern, Marketing-Profis, Technikern, Testmanagern und vielen anderen mehr innerhalb einer Woche nahezu vollständig auf Distributed Work umgestellt wurde. Gähnende Leere in den Projekträumen, aber die Arbeit geht ungebrochen weiter: Kein einziges ausgefallenes Meeting. Keine Umstellung in der Arbeitsstruktur war erforderlich. Teams organisieren sich eigenständig. Termine werden wie gewohnt eingehalten. (Oder wie gewohnt auch nicht.)

Wir erleben diese Veränderung in der Organisation der Zusammenarbeit als reibungslos, effektiv und angesichts der Schnelligkeit und des Umfangs der Umstellung als verblüffend selbstverständlich. Überraschend vor allem auch, weil hier kein geplanter Change-Prozess stattgefunden hat, sondern ein Ad-hoc-Prozess by Covid-19.

Wenn dieser Change bei einem großen IT-Projekt möglich ist, sollte es dann nicht auch für das Liniengeschäft einer Krankenkasse, die gut strukturierte Prozesse und bekannte Akteurskonstellationen hat, möglich sein?

Verwaltungen sind prädestiniert für Distributed Work

Eigentlich sollten Krankenkassen, die vornehmlich Sachbearbeitung und damit Datenverarbeitung leisten, bestens geeignet sein für virtuelle Organisationsformen. Und auch wenn die zu bearbeitenden Informationen traditionell in analoger Form angeliefert, verarbeitet und wieder versandt wurden, nämlich per Post und Papierakte, haben mehr und mehr Krankenkassen inzwischen eine Posteingangsdigitalisierung und eine elektronische Aktenführung umgesetzt.

Die derzeitige Situation kann daher von Krankenkassen als Chance gesehen werden, neue Organisations- und Arbeitsformen gefahrlos (für das Image) in größerem Umfang und neuen Bereichen auszuprobieren, da sicher niemand angesichts der fehlenden Vorbereitungszeit Perfektion erwartet. Die Chance sollten sie nutzen, um sich auf den nächsten Schritt vorzubereiten und von anderen Organisationen zu lernen, die sich radikal virtuell organisieren.

Ein Beispiel dafür ist Automattic, die Softwarefirma hinter u. a. WordPress.com und Tumblr. Automattic hat fast 1 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 75 Ländern, aber das einzige physische Büro dient primär dazu, Investoren zu empfangen.

In einem Gespräch mit Sam Harris (Paywall) stellt Gründer Matt Mullenweg ein Stufenkonzept verteilten Arbeitens vor. Mullenweg spricht in diesem Modell bewusst von „Distributed Work“ („verteilter Arbeit“) statt von „Remote Work“ („Arbeit auf Distanz“), da „Remote“ immer noch ein Zentrum impliziere.

Er bezieht sich auf Daniel Pinks einflussreiches Buch „Drive“, in dem dieser argumentiert, dass Menschen, sobald sie angemessen bezahlt werden, insbesondere drei Dinge motivierend und befriedigend fänden:

  1. Autonomie – Eigenverantwortlichkeit
  2. Mastery – seine Fähigkeiten weiter zu verbessern
  3. Purpose – einen Sinn in der Arbeit sehen, der über den Broterwerb hinausgeht.

Mullenweg sieht in verteilten Organisationen das Potenzial, ein deutlich höheres Maß an Autonomie zu verwirklichen als in traditionellen „büro-basierten“ Organisationen. Das scheinen uns die Gegner verteilter Organisationen auch so zu sehen – allerdings ist dies genau der Grund, warum sie dieser Organisationsform misstrauen.

Reifegradmodell: Wo steht die GKV?

Mullenweg skizziert ein Modell von 5 Stufen oder Reifegraden der Distributed Work:

Stufe 1: Keine spezifischen Maßnahmen oder Angebote

Gelegentlich und ausnahmsweise kann auf dieser Stufe von zu Hause gearbeitet werden, aber Effektivität und Effizienz sind eingeschränkt. Mullenweg schätzt, dass aktuell 98 Prozent aller Firmen weltweit sich auf Stufe 1 befinden, auch wenn viele aktuell die nächste Stufe anstreben. Zu dieser Kategorie gehört offensichtlich auch die Berliner Verwaltung, in der nicht ausreichend in VPN und mobile Endgeräte investiert wurde, sodass Homeoffice nur für einen niedrigen einstelligen Prozentsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglich ist.

Stufe 2: Bürosituation wird virtuell nachgestellt

Wörter wie „Telearbeit“ oder „to telecommute“ zeugen davon, dass diese Stufe noch im Konzept der gemeinsamen Anwesenheit im Büro verhaftet ist. Infrastruktur wie ein VPN und Tools für Chat oder Videokonferenzen werden bereitgestellt, aber das Grundverständnis entspricht der alten Bürosituation, in der alle synchron anwesend sind. Teilweise wird dies durch Software kontrolliert (wobei amerikanische Arbeitgeber in diesem Bereich sicherlich mehr Leistungs- und Verhaltenskontrolle ausüben und ausüben dürfen als deutsche) und insofern diese Kontrollmechanismen die Autonomie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker einschränken als dies im Büro der Fall ist, kann diese Stufe durchaus weniger produktiv sein als Stufe 1. Unsere Krankenkassenkunden befinden sich typischerweise auf Stufe 2. VPNs und eAkte ermöglichen elektronische Sachbearbeitung von zu Hause und die notwendigen Rahmenbedingungen aus Datenschutz- und Revisionssicht sind definiert. Ggf. hapert es noch am zentralen Druck und Versand der Ausgangspost. Auch Videokonferenzen sind i. d. R. kein Problem, allerdings ist man noch eher darauf ausgerichtet, dass diese von speziellen Geräten und nur aus Meetingräumen oder vom Schreibtisch höherer Führungskräfte aus stattfinden.

Stufe 3: Collaborations-Technologien werden effektiv genutzt

Unternehmen, die diese Stufe erreicht haben, investieren in Collaborations-Technologien und die Qualität des Audiokanals, nutzen Tools wie Screensharing effektiv und legen Wert auf die Qualität der schriftlichen Kommunikation, die an Bedeutung gewinnt.
Bei Automattic beispielsweise ist die Qualität der schriftlichen Kommunikation ein wichtiges Kriterium bei der Personalauswahl – so wichtig, dass Mitarbeiter*innen allein auf dieser Basis eingestellt werden, ohne ein Vorstellungsgespräch!

Stufe 4: Asynchrones Arbeiten wird möglich

Asynchrones Arbeiten mag für eine GKV auf den ersten Blick weniger relevant sein als für ein global agierendes Softwareunternehmen (wobei der eine oder andere unserer Kunden auch schon unter der „Follow the Sun“-Erreichbarkeit im Support seiner amerikanischen Softwarelieferanten gelitten hat). Asynchrones Arbeiten beginnt aber auch schon bei Gleitzeit oder der Möglichkeit, mittags eine Stunde Sport zu machen oder Dinge zu erledigen.
Grundsätzlich ist das oft auch schon heute möglich. Praktisch erleben wir in der GKV einen gewissen Druck, an Meetings in bestimmten typischen Zeitfenstern teilzunehmen, diese Zeitsouveränität einschränkt.
Stufe 4 erfordert, dass eine Organisation den Zweck und die Qualität ihrer Meetings radikal hinterfragt und insbesondere andere (asynchrone) Wege findet, Entscheidungen zu treffen. Mullenweg verweist auf die vielen bekannten Probleme bei der Entscheidungsfindung in Meetings (z. B. dass einzelnen Personen die Diskussion dominieren oder introvertierte Menschen weniger zu Wort kommen) und sieht dies auch als Chance, die Qualität von Entscheidungen zu verbessern.

Stufe 5: Höchste Flexibilität

Auf Stufe 5 können lt. Mullenweg Mitarbeiter*innen ihren Tag im Hinblick auf Gesundheit und Wohlbefinden strukturieren und die Organisation könne bessere Arbeit leisten als jede Organisation, die auf persönliche Anwesenheit setzt. Diese Stufe bezeichnet Mullenweg mit einem gewissen Augenzwinkern selbst als „unerreichbar“.

Der Großteil unserer Krankenkassenkunden befindet sich auf Stufe 2. Mit Blick auf das von Mullenweg skizzierte Modell, sollten Krankenkasse sich eine Reihe von Fragen stellen, um von radikal verteilt arbeitenden Organisationen zu lernen, z. B.:  

  • Wie können wir Tools so nutzen, dass sie wirklich Mehrwert stiften?
  • Welche neuen Arbeitsweisen sind erforderlich, um die Potenziale der Technik und der verteilten Organisation auszuschöpfen?
  • Welche Hürden sind verzichtbar, d. h., welche Strukturen und Vorgaben, die das verteilte Arbeiten behindern, sind verhandelbar?
  • Wie können wir unsere Arbeitszeit flexibler und ggf. asynchron organisieren?
  • Wie können wir Zeitsouveränität ermöglichen?
  • Wie können wir unseren Modus der Entscheidungsfindung optimieren? Wann, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen sind Meetings tatsächlich notwendig und in ihrer Qualität zielführend, um Entscheidungen herbeizuführen und eine hohe Qualität dieser Entscheidungen sicherzustellen? Oder gibt es andere und bessere (asynchrone) Wege, Entscheidungen zu treffen?

Was wir im Hinblick auf Distributed Work lernen können

Die Kurzfristigkeit und Radikalität mit der uns die Corona-Pandemie gezwungen hat, den Change zu virtuellen und verteilten Arbeitsformen zu vollziehen, zeigt: Es funktioniert – besser und weitreichender als erwartet! Selbst in Bereichen, in denen man bisher davon ausgegangen war, dass eine persönliche Anwesenheit unabdingbar ist, erweist sich Distributed Work als zielführende Arbeitsform. Aus eigener Erfahrung wissen wir, auch Organisationsentwicklungsprojekte und Workshops sind mit entsprechender Erfahrung, Planung und Methodenkenntnissen in hoher Qualität virtuell durchführbar.

Es gilt jetzt, die Chancen dieses Umbruchs langfristig zu nutzen. Für die Unternehmen heißt das, Investitionen eher auf die Infrastruktur der Mitarbeiter zu Hause, ihre Netzwerke und sichere Softwaresysteme zu verlagern, anstatt viel Geld in Immobilien zu stecken, die (wie wir jetzt staunend feststellen können) gar nicht unbedingt gebraucht werden.

Mehr verteilte Arbeit bedeutet auch, die Chancen flexiblerer Arbeitszeitmodelle zu realisieren und damit die Attraktivität am Arbeitsmarkt zu erhöhen. Und viele Krankenkassen stehen – bedingt durch die Demografie ihrer Belegschaft – genau hier gerade vor großen Herausforderungen.

Machen wir das Beste daraus und sichern heute die Nachhaltigkeit dessen, was wir in der Krise gelernt haben, durch kluge Innovationsprojekte für morgen. Diese sollten sich an der Notwendigkeit orientieren, neben der Schaffung einer adäquaten technischen Infrastruktur und der Etablierung passender Tools auch neue virtuelle Formen der Zusammenarbeit einzuüben, zu überdenken und anzupassen.

Beim nächsten Mal berichten wir dann von unseren Erfahrungen mit der Durchführung von virtuellen (Design Thinking-)Workshops.

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Grafik: Eigene Darstellung (Quelle: freepik).

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