Von der Krankheitsversorgung zur Gesundheitsfürsorge – Warum Sekundärprävention der unterschätzte Gamechanger in der Versorgung ist

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Sekundärprävention als Gamechanger

Das System am Kipppunkt

Die Sozialsysteme Deutschlands stehen vor einem tiefgreifenden Wandel. Jahrzehntelang trug das Solidarprinzip: Viele Erwerbstätige zahlten ein, vergleichsweise wenige bezogen Leistungen. Doch mit dem demografischen Wandel kippt dieses Gleichgewicht. Die Baby-Boomer treten in das Rentenalter ein, während die Zahl der Erwerbstätigen schrumpft – und damit auch die Einnahmen der Renten-, Pflege- und gesetzlichen Krankenversicherungen. Zugleich steigen die Gesundheitskosten im Alter exponentiell: Die Ausgaben für über 85-Jährige liegen bei über 25 000 Euro pro Kopf – fast fünfmal so hoch wie der Durchschnitt.

Vor diesem Hintergrund ist klar: Die herkömmliche Strategie – kurative Versorgung, wenn Krankheiten bereits manifest sind – wird künftig nicht mehr ausreichen. Die nachhaltige Sicherung der Versorgung erfordert einen Paradigmenwechsel: weg von der reinen Krankheitsbehandlung, hin zur aktiven Gesundheitsfürsorge. Ein zentraler Hebel dafür ist die tiefe Integration der Sekundärprävention in die Versorgung – und sie ist in Deutschland bislang sträflich unterschätzt.

Chronische Krankheiten wirksam verhindern: Warum Prävention an den Root Causes ansetzen muss

Zahlreiche Studien und nationale Versorgungsleitlinien sind sich einig: Der Lebensstil ist der entscheidende Risikofaktor für die großen Volkskrankheiten – darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2, Hypertonie oder Depressionen. Und dennoch: Die Praxis hinkt den Erkenntnissen hinterher. Präventive Lebensstilinterventionen sind im deutschen Versorgungssystem kaum verankert, insbesondere dort, wo sie besonders nötig wären – in vulnerablen Lebenswelten wie Pflegeeinrichtungen, Schulen oder bei älteren, mehrfach erkrankten Menschen.

Dabei ist das Potenzial enorm. Ein gesunder Lebensstil kann einen erheblichen Teil chronischer Erkrankungen verhindern. Studien belegen, dass durch Ernährungsumstellungen bei Menschen mit Prädiabetes Remissionsraten von rund 40 % erreicht werden können (Sandforth et al., 2023)  und im Bereich der Onkologie Vermeidungsraten von 50 % (Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg, 2021) zu erreichen sind. Ähnliches gilt für die wichtigsten chronischen Volkserkrankungen. Hierbei sind in den nationalen Versorgungsleitlinien dazu diese sekundärpräventive Interventionen auch klar adressiert. Jedoch mangelt es an der Integration im Versorgungsalltag.

Internationale Programme wie das Diabetes Prevention Program (DPP) in den USA und das NHS Diabetes Prevention Programme in Großbritannien zeigen eindrucksvoll, wie wirkungsvoll strukturierte Lebensstilinterventionen sein können – medizinisch wie ökonomisch. Das DPP basiert auf einer groß angelegten klinischen Studie und konnte das Risiko für Typ-2-Diabetes bei Risikopatienten um 58 % senken. Die langfristige gesundheitsökonomische Auswertung zeigt: Höhere Investitionen in Prävention amortisieren sich durch geringere Folgekosten und verbesserte Lebensqualität. Auch der NHS verfolgt einen systematischen Ansatz – von der breiten Risikoeinschätzung über individuell zugeschnittene Maßnahmen bis hin zur Integration in die Regelversorgung. Beide Beispiele zeigen: Prävention wirkt, wenn sie strategisch geplant, evidenzbasiert und stufenweise umgesetzt sowie strukturell verankert ist.

Kompression statt Medikalisierung: Die unterschätzte Strategie

Die Krankheitskosten der Zukunft werden nicht allein durch das Alter verursacht – sondern durch die Häufung chronischer Erkrankungen und den fehlenden Umgang mit ihren Ursachen. Hier setzt das Konzept der Morbiditätskompression an: Die Zeitspanne, in der Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen leben, soll verkürzt werden – zugunsten eines längeren Lebens in guter Gesundheit.

Das Gegenmodell dazu – die sogenannte Morbiditätsexpansion (teils auch unter dem Begriff Medikalisierung benannt)– scheint aktuell das dominierende Prinzip im Gesundheitswesen zu sein. Dies führt oft zu einer längeren Lebenszeit, jedoch mit eingeschränkter Lebensqualität bei verbleiben der chronischen Krankheiten und einem höheren Bedarf an Pflege. Der Preis: massiv steigende Gesundheits- und Pflegekosten bei sinkender Lebensqualität.

Kompression der Krankheitslast und Kosten durch Therapiefokus auf Root Causes


Quelle: _fbeta GmbH auf Datengrundlage von Statistisches Bundesamt (Destatis) (2024a) und Bundeszentrale für politische Bildung (2022)

Wenn wir ernsthaft an der Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitswesens arbeiten wollen, führt an der systematischen Integration von Sekundärprävention in den Versorgungsalltag kein Weg vorbei. Und zwar nicht als freiwillige Ergänzung, sondern als strukturell eingebundener Bestandteil der Regelversorgung.

Was sich ändern muss: Organisation, Steuerung, Integration

Die zentrale Frage ist nicht mehr, ob, sondern wie sich präventive Versorgung wirksam umsetzen lässt. Internationale Best Practices geben klare Hinweise: Erfolgreiche Programme kombinieren frühe Risikoeinschätzung, gezielte Fallgruppenzuordnung und passgenaue Interventionen – begleitet durch digitale Tools, strukturierte Programme und verlässliche Koordination. Und Orientierung an der Ergebnisqualität.

In Deutschland dagegen fehlt es an genau diesen strukturellen Voraussetzungen:

  • Keine eigenständigen Leitlinien für Prävention,
  • keine einheitliche Steuerung zwischen den Sektoren,
  • kein verbindlicher Zugang zur Leistungserbringung außerhalb von Disease-Management-Programmen und auch diese sind verbesserungswürdig.

Zwar haben die gesetzlichen Krankenkassen ihre Ausgaben für Prävention im Jahr 2023 weiter gesteigert – insgesamt wurden rund 631 Mio. Euro aufgewendet, was 8,49 Euro pro Versicherten entspricht und damit den gesetzlich vorgesehenen Orientierungswert erfüllt.
Doch gleichzeitig zeigt der aktuelle Präventionsbericht: In besonders relevanten Bereichen wie Lebenswelten (Kitas, Schulen, Kommunen) und Pflegeeinrichtungen wurden die verbindlichen Mindestausgabenwerte erneut nicht erreicht (GKV-SV 2024). In Lebenswelten lagen die Ausgaben bei 2,25 Euro pro Versichertem (Sollwert: 2,34 Euro), in der Pflege sogar nur bei 0,27 Euro (Sollwert: 1,09 Euro).
Die Folge: Ausgerechnet dort, wo präventive Maßnahmen besonders wirksam wären, bleibt das Engagement strukturell zu schwach.

Gleichzeitig verdeutlicht die Analyse von Versorgungsszenarien, dass besonders in der Versorgung chronisch Kranker, multimorbider und pflegebedürftiger Menschen große Potenziale für die Integration präventiver Ansätze liegen – sowohl aus Sicht der Versorgungsqualität als auch in Bezug auf die Kostenentwicklung. Das gilt für alle Lebensabschnitte bis ins hohe Alter.

Was wir brauchen: Ein neuer Blick auf Versorgungsstrategie

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens bietet die Chance, Versorgung entlang von Lebensphasen und Krankheitsverläufen neu zu denken. Typische Managementperspektiven sind indikationsbezogen. Aber genau hier liegt ein ungenutztes Potenzial: Es geht darum, Versorgungsökosysteme entlang der großen Versorgungsegmente und Lebensphasen zu identifizieren. Die hierfür sinnvollen Interventionen und Strukturen sind indikationsübergreifend homogener als es in indikationsspezfischen Leitlinien zunächst sichtbar wird. Und das gilt auch für die Pflege. Statt nur in Sektoren oder Indikationen zu denken, braucht es Versorgungsökosysteme, die gerade Prävention, Gesundheitskompetenz und nachhaltige Intervention setzen – und dabei standardisierte, digital gestützte Prozesse nutzen. Das prioritäre Potenzial liegt in der gezielten, indikationsübergreifenden Sekundärprävention. Diese hat das größte Verbesserungspotenzial und ist am schnellsten eine ökonomische Entlastung für das Gesundheitswesen.

Eine konsequente Orientierung an internationalen Vorbildern ist sinnvoll – insbesondere dort, wo Prävention tief in die Versorgung integriert haben. Die USA und Großbritannien zeigen, wie stufenweise Programme, digitale Unterstützung und organisatorische Verzahnung Prävention wirksam und wirtschaftlich machen. Die praxisnahe Integration auf Ebene der Organisation, Technik und Vergütung muss spezifisch für Deutschland erfolgen.  

Fazit: Jetzt handeln – bevor das System kippt

Die demografische Entwicklung ist keine ferne Zukunftsfrage. Sie ist real, messbar und trifft das Gesundheitswesen bereits heute. Sekundärprävention – verstanden als strategischer Hebel zur Fallvermeidung chronischer Erkrankungen – bietet eine konkrete, erprobte Antwort auf diese Herausforderung. Sie verbessert nicht nur Lebensqualität und Lebenserwartung, sondern senkt auch die Belastung der Versorgungssysteme – und das langfristig.

Deutschland hat das Wissen, die Daten und die wissenschaftliche Evidenz. Fehlt der Mut zur Umsetzung?

Wir denken: Die Zeit ist reif für einen Strategiewechsel in der Versorgung – von der Krankheitsverwaltung zur echten Gesundheitsfürsorge. Besondere Potenziale sehen wir für Krankenkassen, Arbeitsgeber und Kommunen für eine teils gemeinsame Umsetzung z. B. in Form von Gesundheitsregionen oder für bundesweite Initiativen nach Themenschwerpunkten.

_fbeta begleitet Akteure im Gesundheitswesen dabei, diese Potenziale systematisch zu erschließen – mit durchdachten Strategien, erprobten Umsetzungskonzepten und Erfahrung in der Steuerung komplexer Stakeholder-Prozesse.

Sprechen Sie uns gerne an.

📩 Kontakt: Karsten Knöppler

Quellen

Bundeszentrale für politische Bildung (2022). Gesundheitsausgaben.

Destatis (2024). 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland.

GKV-SV (2024): GKV-Spitzenverband & Medizinischer Dienst Bund (2024): Präventionsbericht 2024 – Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention nach §§ 20 ff. SGB V im Berichtsjahr 2023. Berlin/Essen. Online unter: www.gkv-spitzenverband.de

Krebsforschungszentrum Heidelberg (DKFZ) (2021). Vermeidbare Krebserkrankungen in Deutschland – Infografik zu Risikofaktoren und Präventionspotenzialen. Heidelberg: DKFZ.

Sandforth et al. Mechanisms of weight loss‑induced remission in people with prediabetes: a post‑hoc analysis of the randomised, controlled, multicentre Prediabetes Lifestyle Intervention Study (PLIS). Lancet Diabetes Endocrinol. 2023;11(11):798-810.

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