
Warum Real-World-Evidence künftig über den Markterfolg entscheidet
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) haben seit ihrer Einführung vor 5 Jahren eine bemerkenswerte Dynamik entfaltet. Über 50 Anwendungen sind bislang im DiGA-Verzeichnis gelistet, viele davon dauerhaft (für aktuelle Zahlen siehe unseren _fbeta-DiGA-Analyzer®) Die Grundlage der Zulassung bilden in der Regel randomisierte klinische Studien (RCTs), die patientenrelevante Verbesserungen belegen. Doch immer deutlicher zeigt sich: Die echte Bewährungsprobe für den Erfolg einer DiGA liegt nicht allein im Studiensetting – sondern im Versorgungsalltag.
Genau hier setzt die Diskussion um die anwendungsbasierte Erfolgsmessung (AbEM) an. Sie wird durch das Digital-Gesetz (DigiG) ab 2026 verpflichtend für alle DiGA (§ 139e Abs. 13 SGB V). Hersteller müssen dann anonymisierte Daten zur Nutzung, Adhärenz, Patientenzufriedenheit und zu patientenberichteten Outcomes (PROs) an das BfArM übermitteln, das die Ergebnisse veröffentlicht. Durch die zeitgleich erfolgte Anpassung des § 134 SGB V werden die Ergebnisse derf AbEM verpflichtend in die Verhandlungen des Erstattungsbetrages einfließen. Damit wird die Frage zentral: Kann die AbEM zum positiven Treiber für DiGA werden – oder bremst sie eher die Entwicklung?
Von der Zulassung zur Versorgung: Warum Real-World-Evidence entscheidend wird
Die Evidenznachweise im DiGA-Verzeichnis beruhen fast ausschließlich auf RCTs. Sie sind Goldstandard in der klinischen Forschung – aber ihre Übertragbarkeit auf den Versorgungsalltag ist begrenzt: Drop-out-Raten, veränderte Nutzungsbedingungen oder andere Patientengruppen werden nicht abgebildet.
Real-World-Evidence (RWE) und damit eben die AbEM adressiert drei Kernfragen, die für die Versorgungspraxis entscheidend sind:
- Wird die Zielgruppe tatsächlich erreicht? Analysen von Kassen zeigen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. Ältere oder sozial schwächere Versicherte) seltener erreicht werden.
- Bleiben Nutzer therapietreu? Daten des BARMER-Arztreports 2024 zeigen, dass über ein Drittel der Nutzer eine DiGA vorzeitig abbricht – rund 15 % bereits im ersten Monat.
- Entsteht im Alltag ein messbarer Nutzen? Erst Real-World-Evidence zu PROs, Versorgungsinanspruchnahme oder Krankschreibungstagen kann belegen, ob die Wirksamkeit auch unter Routinebedingungen trägt (siehe Sippli, Deckert, Schmitt & Scheibe, 2025: Healthcare effects and evidence robustness of reimbursable digital health applications in Germany: a systematic review)
Damit verschiebt sich der Fokus: von der Frage „Kann die App wirken?“ hin zu „Wirkt sie dort, wo sie gebraucht wird?“
Wachstumschance für Hersteller: Wie Start-ups AbEM strategisch nutzen können
Für Start-ups und Hersteller bedeutet die anwendungsbasierte Erfolgsmessung (AbEM) einen spürbaren Eingriff in ihre Produktentwicklung und Organisation.
Schon die Datenerhebung erfordert Anpassungen: Apps müssen so gestaltet sein, dass sie standardisierte Nutzungsinformationen DSGVO-konform erfassen können – von der Häufigkeit und Dauer der Nutzung bis hin zu Modulfortschritten. Hinzu kommt die Integration validierter Patientenfragebögen, etwa zur Lebensqualität oder Symptomverbesserung, die methodisch belastbar und gleichzeitig nutzerfreundlich sein müssen. Parallel steigt der Bedarf an methodischer Kompetenz: Wer überzeugende Ergebnisse präsentieren will, muss sich mit auch mit Routinedaten-Analysen auseinandersetzen. Mehraufwand – doch er eröffnet zugleich neue Möglichkeiten.
Wer es schafft, die Pflicht als strategische Chance zu begreifen, kann profitieren:
- Vertrauen schaffen: Kassen und Ärzt:innen zögern oft noch DiGA zu verschreiben. Skepsis besteht vor allem hinsichtlich Wirkung und Patientennutzen – hier lassen sie sich eher durch belegte Wirksamkeit im Versorgungsalltag überzeugen.
- Preisverhandlungen stärken: Daten zu Adhärenz und Outcomes stärken die Position und liefern Argumente für höhere Vergütungen oder Selektivverträge.
- Produktoptimierung beschleunigen: Daten zu Nutzung und Drop-out helfen, Features nachzuschärfen und die Nutzerbindung zu erhöhen.
- DiGA als integraler Versorgungsbaustein von Disease-Management-Programme und Präventionsstrategien: Bislang sind DiGA meist als ergänzende Angebote positioniert; validen Real-Worl-Daten können die Aufnahme in solche strukturierten Programme unterstützen.
Methodische Herausforderungen: Warum die Interpretation von AbEM-Daten schwierig bleibt
So groß die Chancen der anwendungsbasierten Erfolgsmessung auch sind, methodische Hürden erschweren eine valide Interpretation der Ergebnisse. AbEM-Daten werden in einem nicht-vergleichenden Setting erhoben, sodass der Einfluss externer Faktoren auf den Behandlungserfolg nicht ausgeschlossen werden kann. Da die Teilnahme für Patient:innen freiwillig ist, besteht zudem ein erhebliches Risiko für Self-Selection-Bias: Häufig beteiligen sich eher motivierte oder besonders digitalaffine Nutzergruppen. Auch die angestrebte Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen DiGA ist problematisch: Heterogene Erhebungsmethoden, Outcomes und Zielpopulationen – die sich trotz gleicher Indikation beispielsweise in den Schweregraden unterscheiden können – lassen bislang keine belastbare Gegenüberstellung zu. Hinzu kommt, dass auch Aspekte wie die Nutzungshäufigkeit nicht eindeutig als Erfolg oder Misserfolg einer DiGA gewertet werden können. Damit bleibt festzuhalten: Die Evidenz aus den Erprobungsstudien ist methodisch robuster; die AbEM kann sie ergänzen, aber nicht ersetzen.
Wie AbEM als Treiber die DiGA-Landschaft verändern kann
Ob AbEM so zum Innovationstreiber wird, hängt von der Umsetzung ab: Gelingt es, Ergebnisse transparent, aber auch fair und kontextsensitiv darzustellen, kann daraus eine neue Stufe der Versorgungsintegration entstehen. Bleibt AbEM hingegen ein rein formales Reporting, droht sie zu einem bürokratischen Hemmschuh zu werden.
Aus Muss wird Plus
AbEM wird kommen. Gemeinsam können wir daraus etwas machen, das eure DiGA stärkt und echten Nutzen bringt.